Bereits Anfang der 2000er Jahre stellte der italienische Philosoph und Aktivist Franco Berardi fest, dass wir in einem Zeitalter leben, das durch eine „Überdosis an Sichtbarkeit“ und einen „Zwang zum Ausdruck“ geprägt sei. Noch vor der Entwicklung von Smartphones und der Verbreitung der Selfie-Praxis diagnostizierte er, dass unsere Welt bestimmt sei von einem Kapitalismus der Zeichen und Bilder.
Die Produktion von Bildern ist seither zu einer allgegenwärtigen Praxis geworden, die das soziale Leben bestimmt und längst nicht mehr in der Hand einzelner Experten liegt. Wir leben offenbar in einer Epoche, in die Weltverhältnisse durch ubiquitär und viral verbreitete Bilder geprägt sind, in der Blogger, Influencer und vor allem Algorithmen den Blick lenken und Social Media-Plattformen zu den einflussreichsten globalen Unternehmen aufgestiegen sind. Aufmerksamkeitsökonomien strukturieren dabei auf neue Weise die globalen Machtverhältnisse und lösen neuartige Verteilungskämpfe aus. Offenbar sind nicht alle gleichmäßig zu Experten der Bildproduktion geworden, auch haben die Produzenten längst nicht mehr die Nutzung ihrer Bilder in der Hand. Leben wir also in einer totalisierten Sichtbarkeit und Transparenz, in der scheinbar kaum noch etwas unsichtbar bleiben kann?
Die Strukturen und Bedingungen, unter denen Sichtbarkeit, Aufmerksamkeit oder gar öffentliche Wahrnehmung erlangt werden, haben sich jedenfalls ebenso fundamental gewandelt wie die Formen der Bildproduktion. Der Ökonom und Stadtplaner Georg Franck hatte bereits vor etwas mehr als zwanzig Jahren in seinem denkwürdigen Essayband „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ den Anbruch einer neuen Epoche bemerkt, deren bildlicher Stil sich an der Medienästhetik orientiert. In dieser neuen Epoche genüge es nicht mehr, wenn die Dinge „schön und auffällig“ seien, es müsse „auch auffallen, dass sie auffallen“.
Heute beherrscht eine junge Generation diese Taktik oft besser als mancher Medienprofi. So scheinen gegenwärtige Gesellschaften erratisch an- und abschwellenden Aufmerksamkeitswellen zu unterliegen und dabei Schwarmeffekten zu folgen. Zugleich aber beobachten sie mit zunehmender Sorge das Machtmonopol von Medienkonzernen. Das Internet, einst großes Demokratieversprechen, hat sich zu einer Arena entwickelt, in der Dilettanten, Großkonzerne und versprengte ProgrammiererInnen, die nur lose miteinander verknüpft sind, schwer kalkulierbare Echokammern erzeugen. Die Macht von Bildern und das Wie, Wann und Warum öffentlicher Sichtbarkeit folgt daher ganz anderen Logiken als noch vor einigen Jahrzehnten. Eine junge Politikerin vermag durch eine Instagram-Story mächtige Kollegen der Konkurrenz auszubremsen. Eine Schülerin tritt eine Massenbewegung los und setzt die europäische Politik unter Druck. Ist das alles möglich, weil Politik, Macht und die Lenkung der Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit heute ein und dasselbe sind? Wie genau unterscheiden sich diese Entwicklungen von früheren Bildstrategien?
Wollen wir diese Vorgänge genauer verstehen, so gilt es nicht nur Bildstrategien, sondern auch den Umgang mit Bildern und die gesellschaftlichen Effekte der Verbreitung von Bildern genauer ins Visier zu nehmen. Vor diesem Hintergrund befasst sich das artsprogram und Zentrum für Kulturproduktion über zwei Semester hinweg mit der skizzierten Thematik. Dies geschieht durch eine Ausstellung mit Fotografien des französischen Soziologen Pierre Bourdieu mit einem Display der Kooperative für Darstellungspolitik, eine Ringvorlesung zu künstlerischen Bildstrategien, wie auch durch wissenschaftliche Einzelveranstaltungen, ein interdisziplinäres Expertensymposium zu künstlerischen und wissenschaftlichen Methoden der Bildanalyse sowie eine Reihe von Performances und Interventionen. Unter dem Titel „Ökonomien der Sichtbarkeit“ sollen dabei insbesondere künstlerische und soziologische Bildstrategien befragt und miteinander kontrastiert werden.
Das Ausstellungsprojekt, das in einem offenen Archivraum und Studierzimmer die Fotografien Pierre Bourdieus, einem der wichtigsten Soziologen der Nachkriegszeit und Begründer der visuellen Soziologie, ins Zentrum stellt, beleuchtet die Frage, wie dieser mit den Mitteln der Fotografie gesellschaftliche Strukturen, Machtverhältnisse sowie spezifische kulturell und sozial bedingte Habitus sichtbar zu machen suchte. Über ein Jahr hinweg werden aus einem Fundus von 800 Fotografien unterschiedliche Formationen von Bourdieus Fotografien gezeigt und aktuellen hyperaufgelösten 4K Videos gegenübergestellt, die einen aktualisierten Blick auf ebendiese Orte richten und sie im Jahr 2019 wieder aufsuchen. Parallel zu dieser Fokussierung auf den französischen Soziologen und sein wegweisendes Bildarchiv findet im Frühjahr 2020 eine öffentliche Ringvorlesung statt, die historische Ökonomien und Ordnungen der Sichtbarkeit aus kunst- und kulturwissenschaftlicher Perspektive erörtert. In diesem Rahmen werden Kunst- und KulturwissenschaftlerInnen den Zusammenhang von Macht, Herrschaft, Präsenz und Sichtbarkeit an beispielhaften Kunstwerken und -projekten zur Diskussion stellen. In zwölf Vorträgen wird das Spektrum dabei von der Antike bis zur Gegenwart reichen.