Das Jahresthema des artsprogram und des
Zentrum für Kulturproduktion 2022 geht der Bedeutung des Träumens für die
Erschließung der Welt und möglicher Zukünfte nach und blickt dabei auch zurück
in die Geschichte des Träumens und Imaginierens. Ausstellungen, Workshops und
Vorträge loten die epistemische Funktion und das Potential von Träumen,
Phantasmen und virtuellen Welten für das aus, was noch nicht ist, aber sein
könnte.
Das umfangreiche Veranstaltungsprogramm, darunter die Ausstellung des artsprograms „Algorithmic Rituals – The Infinite Self“ und eine Ringvorlesung, befasst sich mit der Frage, ob und inwiefern Träume in der Lage sind, jenes Verständnis von Wirklichkeit zu überwinden, das „sich ununterbrochen selber darstellt“ (Jacques Rancière).
Das Programm gliedert sich in zwei Arbeitsphasen. In der ersten
Phase, Februar – Mai 2022, werden Künstlerinnen und Künstler sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler
eingeladen, das Phänomen und die Geschichte des Träumens auf unterschiedliche
Weise zu beleuchten, seine Funktion zu untersuchen und – mit den Kunstschaffenden
Susanne Kennedy und Markus Selg – phantasmatische Räume einer
digital-futuristischen Traumwelt zu entwerfen.
In einer zweiten Arbeitsphase, die im September 2022 beginnt,
werden Aktivistinnen und Aktivisten eingeladen, die an konkreten sozialen Utopien arbeiten, für
sie leben oder für ihre Umsetzung kämpfen. Das Programm gibt ein Jahr lang
Denkerinnen, Musikern, Performerinnen, Schriftstellern,
Künstlerinnen, Wachträumern und Gästen Raum, um Imaginäres zu materialisieren.
Vor dem Hintergrund aktueller
planetarischer Krisen lädt das artsprogram gemeinsam mit künstlerischen
Aktivisten zum spekulativen Denken und kollektivem Träumen ein. Es sucht nach
neuen Zukunftshorizonten, die mehr sind als billige Phantasmen oder zynische
Formen der Weltflucht.
Träumerinnen und Träumer haben keinen guten Ruf. Schon gar nicht in der
Wissenschaft, aber nicht einmal in den Künsten sind sie wohl gelitten. Möglicherweise
aber sind radikale Träumerinnen und Träumer in Wahrheit die neuen Realistinnen und Realisten. Diese These
zumindest vertritt der Philosoph Slavoj Žižek in seinem Buch Pandemic! 2 . Sein Argument lautet, dass das Träumen – und
hier vor allem der Albtraum – uns im Grunde mit einer tieferen Wahrheit über
die Beschaffenheit der Welt konfrontiert. Träume lassen uns in ein kollektives
Unbewusstes blicken, das sonst verschlossen bleibt. Sie haben
Offenbarungscharakter. In seinen Schriften erinnert Žižek immer wieder
daran, dass die Philosophie, das Denken und das Vordringen zur Welt auf Träume,
das Fiktive und das Imaginäre als Erkenntnisinstrumentarium angewiesen
sind.
Aber haben wir vielleicht verlernt, in diesem Sinne zu träumen?
Hat sich die Funktion von Träumen verändert? Gewinnt das Träumen im Angesicht
immer dominanter werdender digitaler Simulationen und virtueller Welten eine
neue Funktion? Welche erkenntnistheoretische Rolle kommt Träumen in einer Welt
zu, in der Zukunftsvorstellungen vor allem auf der Algorithmisierung des
Vergangenen fußen?
Den Künsten kommt bei der
Erzeugung von
träumerisch-imaginären Möglichkeitsräumen eine besondere Bedeutung zu.
Ohne Imagination, so schreibt etwa der französische Philosoph
Jacques Rancière, bewegen wir uns in einer „Wirklichkeit, die sich
ununterbrochen selber
darstellt“. Epistemisch, so argumentiert er im Anschluss an
Freud, ist die Kunst in einem Zwischenraum zwischen dem Realem und dem
Phantastischem angesiedelt und gestaltet so ganz eigene Beziehungen
zwischen
Wissen und Nichtwissen, „von Sinn und Sinnlosigkeit, von logos und
pathos“. Weil
die Künste ein solch besonderes Instrument der Zukunftsöffnung zu sein
scheinen,
wollen wir, diese epistemische Technik genauer betrachten und näher
beleuchten,
wie künstlerische Projekte diesen Zwischenbereich gerade dort erweitern,
wo es
um eine Transformation der sozialen Verhältnisse geht.
In seinem Buch „The New Dark Age. Technology and the End of the
Future“ beschreibt der britische Informatiker und Kognitionswissenschaftler
James Bridle eine digitaltechnologische Zukunft, die durch die Computerisierung
des Denkens letztlich auf einen emphatischen Begriff von Zukunft verzichtet: Denken
bedeutet Rechnen, und Computer beginnen für den Menschen nicht mehr
nachvollziehbare Entscheidungen zu treffen. Haben in unserem Zeitalter der
„digitization of everything“ (Shoshanna Zuboff) womöglich virtuelle Welten das
Träumen längst ersetzt? Welche Bedeutung gewinnt das Träumen und das Unbewusste
in einer solchen Welt? Spielt es hierin keine Rolle mehr zur Gewinnung
utopischer Energien? Sind wir Traumvergessene? Oder zeugt die neue Welle von
Utopien und Dystopien, die wir gegenwärtig erleben, gerade von einer neuen,
anderen Funktion radikalen Träumens? Wie können Träume von einer anderen
Gesellschaft, so wie Robin D.G. Kelley sie in seinem Buch Freedom Dreams
beschreibt, Katalysatoren für politisches Engagement werden?
Diese Fragen eröffnen zugleich einen geschichtstheoretischen Horizont, weil sie die Bedingung der Möglichkeit der Herstellung von Zukunft betreffen. Sie berühren aber auch die gegenwärtige Epistemologie und das Verhältnis zwischen dem Virtuellen, dem Fiktiven, dem Phantastischen und dem Realen
Radical Dreaming Veranstaltungen ST 2022/FT 2022