Speaker

Armen Avanessian

Institutioneller Realismus

Die Wiederbelebungen des Realismus, oder genauer: ständig neuer Realismen, sind inzwischen fast ebenso häufig wie dessen unterschiedliche (und meist widersprüchliche) Definitionen. Vielleicht hilft also zur Abwechslung eine semiotische Ausdifferenzierung unterschiedlicher historischer Konfigurationen und ein Blick darauf, in welchen Feldern Realismus Konjunktur hat. Und gibt es Bereiche –zum Beispiel kulturelle Institutionen–, in denen eine realistische Betrachtung angebracht wäre und die uns zudem noch etwas über einen dem 21. Jahrhundert genuinen Realismus lehren könnte?

Armen Avanessian studied philosophy and political science in Vienna and Paris. After completing his dissertation in literature, he worked at the Free University Berlin from 2007-2014 . He has previously been a Visiting Fellow at the German Department at Columbia University, at the German Department at Yale University and visiting professor at various art academies in Europe and the US. In Berlin he is editor at large at Merve Verlag and co-founder of the bilingual research platform (including a series of events, translations and publications) Spekulative Poetik and of the Bureau for Cultural Strategies.

Eva Illouz

Response auf Armin Nassehi


Eva Illouz was born in Fez, Morocco, raised and educated in France and then later in Israel and the United States. Currently, she is a full professor in the Department of Sociology at the Hebrew University, Jerusalem and Directrice d'Etudes at the EHESS in Paris. Her research interests include sociology of culture, sociology of emotions, sociology of capitalism, and the effect of consumerism and mass media on emotional patterns. Illouz is the author of 11 books about diverse topics that include romantic love, Oprah Winfrey, culture, capitalism and the crystallization of the psychological culture during the 20th century. Several of her books have won International awards. Her books have been translated into 17 languages. In 2004, she was invited to deliver the Adorno lecture series in Frankfurt, Germany and in 2009, Illouz was chosen by the German newspaper, Die Zeit, as one of 12 philosophers who are most likely to “shape the thought of tomorrow”. The same year, she was also awarded the “Outstanding Researcher Award” of the Hebrew University of Jerusalem. Illouz was a fellow in “Wissenschaftskolleg” in Berlin, and writes for Le Monde, Der Spiegel, Die Zeit and Ha’aretz on various subjects such as literature, politics and social affairs.

Albrecht Koschorke

Linksruck der Fakten

Als Symptom für das Ende der postkolonial-poststrukturalistischen Ära springt eine bemerkenswerte Umpolung der politischen Vorzeichen ins Auge. Vieles, was fünfzig Jahre lang Gegenstand einer linksemanzipatorischen Kritik war, ist nun, politisch wirkungsvoller, zur Zielscheibe nationalistisch-autoritärer Bewegungen geworden: der Liberalismus, der Kapitalismus, die Globalisierung, das politische Prinzip der Repräsentation, der hegemoniale Charakter von Vernunft- und Wahrheitsansprüchen. Lieblingsvokabeln der French Theory wie „Dekonstruktion“ und „Simulation“ sind in die Machtpraxis von Rechtspopulisten übergegangen. Kulturwissenschaftler dagegen, eigentlich in der Anerkennung von Alterität und wissenskultureller Vielfalt geübt, finden sich in der ungewohnten Lage wieder, fact checking zu betreiben und gegen die Relativierung universell gültiger wissenschaftlicher Erkenntnisse zu demonstrieren.
Das Anliegen des Vortrags wird es sein, diese sich über viele Felder erstreckenden diskurshistorischen Verschiebungen nachzuzeichnen, um damit die Voraussetzungen für eine vertiefte Analyse sowohl ihrer Ursachen als auch ihrer aktuellen praktischen und theoretischen Konsequenzen zu schaffen.

Albrecht Koschorke ist Professor für Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. 2003 erhielt er den Leibnizpreis. Arbeitsschwerpunkte: Deutsche Literaturgeschichte des 17. bis 20. Jahrhunderts, Kultur- und Erzähltheorie. Seit 2006 Vorstandsmitglied im Exzellenzcluster ‚Kulturelle Grundlagen von Integration’, seit 2010 Sprecher des Graduiertenkollegs ‚Das Reale in der Kultur der Moderne‘. Neuere Buchpublikationen u.a.: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie (Frankfurt/M.: Fischer 2012, 2013). – Hegel und wir (Adorno-Vorlesungen 2013, Berlin: Suhrkamp 2015). – Hitlers ‚Mein Kampf‘. Zur Poetik des Nationalsozialismus (Berlin: Matthes & Seitz 2016)

Sibylle Lewitscharoff

Das Korsett der Realität

Der Realitätssinn inkarniert sich vor allem im Geld, in der Wertschätzung, die wir ihm entgegenbringen, überhaupt im Umgang mit ihm. Natürlich bestimmt das Geld unseren Alltag. Ob wir sparen müssen, ob wir es im Überfluß besitzen, ob wir es geerbt haben oder verdienen, ob unser Einkommen stetig ist oder schwankt, ob wir Geizkrägen sind oder Verschwender, all das hat großen Einfluß auf unser Leben. Es hat aber vor allem Einfluß auf die Phantastereien, denen wir uns hingeben, denn das Geld bewegt sich zu einem Gutteil quecksilbrig im Irrealis. Und dessen Einfluß ist ungleich größer, als wir gemeinhin annehmen.

Sibylle Lewitscharoff, geboren 1954 in Stuttgart, Studium der Religionswissenschaften in Berlin. Etliche Veröffentlichungen, mehrere Literaturpreise. Letzter Roman: Das Pfingstwunder, erschienen 2016 im Suhrkamp Verlag. Büchnerpreis 2013.

Armin Nassehi

Die Realität der Realitätskrise

Kunst und Wissenschaft etablieren seit je den begründeten Zweifel daran, dass die Welt so ist, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Selbst die realistischste Wissenschaft mit dem radikalsten Wahrheitsanspruch und selbst eine Kunst, die sich um naturalistische Abbildung bemüht, verweisen auf die Kontingenz und Krise der Realität. So versetzen die Reflexionstheorien von Kunst und Wissenschaft – die Autonomisierung der Kunst durch Selbstbeobachtung und die Methodisierung der Wissenschaft durch Erkenntnis- und Wahrnehmungskritik – die moderne Gesellschaft in einen Krisenmodus, der ihr strukturell eigen ist. Beide, Kunst und Wissenschaft, verdoppeln die Welt: als Weltzugänge sind sie durch sich selbst bereits gebrochen. Dies lässt sich an Beispielen der Schrift, der Religion, der Erziehung, des politischen Systems, der Massenmedien, des Geldes und der Kultur veranschaulichen. Auch wenn nichts ist, was es zu sein scheint oder vorgibt, stellt sich die Frage: Soll die Krise der Realität überwunden werden, können wir auf die Realität der Krise überhaupt verzichten?

Armin Nassehi, geb. 1960, ist seit 1998 Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Hauptarbeitsgebiete sind soziologische Theorie, Kultursoziologie, politische Soziologie, Wissenssoziologie. Er hat zahlreiche Publikationen innerhalb dieser Forschungsgebiete vorgelegt, darunter mehr als 20 Bücher. Außerhalb des Hochschulbereichs ist Prof. Nassehi vielfältig in Vortrags- und Beratungskontexte eingebunden sowie publizistisch tätig. Seit 2012 ist er Herausgeber der Kulturzeitschrift „Kursbuch“. In seiner Freizeit ist er ein leidenschaftlicher Sänger (Bass).

Birger Priddat

Real = realisieren. Über die Ökonomie

Alles, was wir in Hinblick auf eine Zukunft entscheiden, beruht auf Erwartungen. Erwartungen bezeichnen mögliche Ereignisse, die im Zustand des Wartens noch hypothetisch sind, d.h. fiktional. Zu einer Realität gelangen sie erst, wenn sich aus den möglichen Ereignissen im Laufe eines Prozesses eines als Faktum herausbildet, d.h. sich realisiert. Die Realität dessen, was man erwartet, bildet sich in Marktprozessen heraus, die dadurch die Entscheidung, die man dafür trifft, nur initiieren, aber nicht entscheiden.

Birger P. Priddat ist seit 2017 Seniorprofessor für Wirtschaft und Philosophie, Universität Witten/Herdecke. Vorher Lehrstuhl Volkswirtschaft und Philosophie seit 1991, zwischendurch an der Zeppelin Universität Friedrichshafen (2003 - 2007). Einige Gastprofessuren (bis 2015). Forschungsschwerpunkte: Wirtschaftsphilosophie, Institutionenökonomie, politische Ökonomie, digitale Transformation.

Christiane Voss

Geliehene Realität

In einem Bereich des Denkens wird der Begriff der „Realität“ von vorneherein als ein kritischer gesetzt: dem der Ästhetik. Dass Realität dort immer schon kritisch verstanden wird, bedeutet gleich mehreres: 1) Dass sie nicht in einer homogen-überzeitlich gültigen Form und im Singular zu haben ist. Sie zerfällt in Facetten, von denen nicht klar ist, wie diese zusammenhängen: so wird etwa eine subjektive von einer objektiven Realität unterscheidbar, was sich u.a. in der Trennung von Sprachspielen privater und öffentlicher Meinung, psychologischer und wissenschaftlicher Diskurse ausdifferenziert. 2) Ist Realität kritisch in dem Sinn, dass sie von ungewisser Festigkeit ist, je nachdem, ob sie als eine in sich selbst bereits strittige, zugangsabhängige Attributionsresultante oder als die materiell-praktische Welt adressiert wird, in der wir uns alltäglich orientieren. 3) Aus dieser ungewissen Lage heraus gewinnt die Ästhetik ihren spezifischen Einsatz: Seit Platon laboriert sie an einem konturgebenden Gegenbegriff zu dem der „Realität“, dem der „(a-)mimetischen Irrealität“. In dem Vortrag wird u.a. mit Robert Musils Verständnis vom „anderen Zustand der Wirklichkeit“ und in Rückgriff auf Erfahrungs- und Illusionsästhetiken der Frage nachgegangen, inwieweit wir von der Ästhetik etwas lernen können, über einen kritischen Umgang mit Realitätssetzungen, der auf Besitz- und Wahrheitsansprüche ihr gegenüber ebenso verzichtet, wie auf Humorlosigkeit. Dass es um die Kritik der Realität jeweils ernst ist, wird vielleicht gerade im Spiel mit ihr und ihren Scheinbildungen deutlich.

Christiane Voss ist Philosophin und hat eine Professur für Philosophie/Medienphilosophie an der Bauhaus-Universität Weimar seit 2011 inne. Promotion in Philosophie an der Freien Universität Berlin 2002 (Narrative Emotionen. Über Möglichkeiten und Grenzen philosophischer Emotionstheorien, de Gruyter, Berlin 2003), Wissenschaftliche Mitarbeit am SFB „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ (2003-2010), Habilitation in Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main (Der Leihkörper. Erkenntnis und Ästhetik der Illusion, Fink, München 2013), Teilprojektleiterin in der Forschergruppe „Medien und Mimesis“ seit 2014 (Thema: Bewegtbildliche Mimesis), Sprecherin des Pro-Exzellenzzentrums für Medienanthropologie (KOMA) seit 2014, Weimar, Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik seit 2016. Publikationen in den Bereichen: Ästhetische Erfahrung, Medienphilosophie, Medienanthropologie, Filmphilosophie, Dokumentation, Affekttheorie, Fiktion, Illusion, Immersion.

Zeit, um zu entscheiden

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