Einer der großen
Beinamen des Menschen besagt, dass er ein animal politicum sei. Darin
steckt die Idee, dass wir uns in zwei verschiedenen Räumen bewegen:
Einerseits sind wir Lebewesen mit körperlichen Bedürfnissen,
andererseits bewegen wir uns in einem Raum, in dem wir als Handelnde
auftreten und Freiheit beanspruchen. Diese Doppelung wird seit langem –
nicht erst seit Foucaults Analyse der „Biopolitik“ – der Kritik
unterzogen. Mit dieser Doppelung ist aber auch Politik gemacht worden –
und darum geht es in diesem Vortrag. Statt nämlich den Menschen als
„politisches Tier“ aufzufassen, kann man auch eine Politik betreiben, in
der manche Menschen nur als Tiere auftreten und behandelt werden. Die
Hochphase dieser Politik war das 19. Jahrhundert, als sich diejenigen,
die die Fäden in Politik und Wirtschaft in der Hand hielten, einer
Klasse gegenübersahen, die aus ihrer Sicht nur aus Tieren und wilden
Bestien bestand. Die politische Kampagne gegen die Arbeiter spiegelt
sich im 19. Jahrhundert in einer Debatte um die Armen, an der sich
zahlreiche Philosophen und Poeten beteiligt haben: Hegel, Marx, Victor
Hugo, Baudelaire, Nietzsche und andere. Interessanterweise ist die Rede
vom „Tier“ nicht immer nur abschätzig gemeint, man erblickt in den Armen
vielmehr auch eine natürliche, barbarische Kraft, mit der sie die
verkommene, verzärtelte (verweiblichte?) bürgerliche Welt angreifen. Bis
heute ist der Vorwurf, Menschen würden sich wie wilde Tiere benehmen,
schnell zur Hand – insbesondere dann, wenn irgendwo wilde Randale
ausbrechen. Der Streit um die Armen im 19. Jahrhundert ist ein
historisches Lehrstück zu den Fragen, was uns eigentlich als Menschen
ausmacht und welche Folgen es hat, wenn wir andere aus politischen
Gründen vom Menschsein ausschließen.
Dieter Thomä ist Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen.