»Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.« (Franz Kafka)
(Nicht nur) für SPE-Studierende: Es gibt ein gar nicht kleines Soziologiekollegium an der ZU unter dem Dach weiterer Lehrstühle: Franz Schultheis, Richard Münch, Florian Muhle, Udo Göttlich sowie Dirk Baecker und Eva Illouz
Lehrveranstaltungen im Herbst 2022
Selbstverständnis:
https://www.diaphanes.de/titel/die-vorlesung-ist-die-wilde-version-des-lesens-2314)
Das Theoriekolloquium bietet Gelegenheit zur Diskussion geistes- und sozialwissenschaftlicher Theorien und Thesen jenseits der Prüfungsatmosphäre. Die Auswahl der Themen und Lektüren folgt den Interessen der Anwesenden, die auch eigene Texte zur Diskussion stellen können. Anschlüsse und Bezüge entstehen nicht durch ein gemeinsames Thema, sondern durch das geteilte Interesse an konzentrierter Auseinandersetzung mit Theorien. Die Form der Veranstaltung kann themenspezifisch von Lektüre über Vortrag, Podiumsdiskussion bis Performance variieren.
Im Herbstsemester 2022 findet das Theoriekolloquium jeweils dienstagabends um 19 Uhr in Raum 1.05 statt. Die Anmeldung ist möglich im zuhause (Zusatz | Theoriekolloquium) oder einfach per Mail an anna.staab@zu.de.
11.10.22: Warum man Musik lesen muß. Plädoyer für eine stille
Kunst (Joachim Landkammer)
18.10.22 Dumm und unsinnlich (Reflexion 36 aus Adornos Minima Moralia sowie Auszüge aus Baudrillards The Transparency of Evil und Looking back at the end of the world) (Vortrag: Oskar Wöltje)
25.10.22 Why Has Critique Run out of Steam (Bruno Latour) (Vortrag: Aljoscha Böhm)
8.11.2022 t.b.a. (Anna Staab)
15.11.2022 Die Freiheit einer Frau (Édouard Louis) (Vortrag: Amelie Kybart), t.b.a. (Anni Reimnitz)
22.11.2022 Fermente des Sozialen. Thermische Figuren in der Sozialtheorie. (Elena Beregow, Gast)
23.11.2022, 11 Uhr (!) Analogue Nostalgia. (Clara Wieghorst, Gast)
29.11.2022 t.b.a. (Philipp Kleinmichel)
Am 29. April 2022 fand anlässlich des 10-jährigen Bestehens des Lehrstuhls für soziologische Theorie am Seemooser Horn ein Alumnitreffen des Lehrstuhls statt. Zur Feier des „Es klappt nicht“ kam neben etwa 50 Absolvent:innen des Lehrstuhls auch der erste Jahrgang der Luftschiffkapelle wieder zusammen.
Fotos: Lena Reiner
Von der Soziologie versprach sich ihr Namensgeber Auguste Comte nicht weniger als eine »endgültige Wissenschaft«: »die Auflösung unserer intellektuellen Anarchie, der wahren Hauptquelle der sittlichen und sodann der politischen Anarchie« (Soziologie, 1842/1923, S. 3). Das Bezugsproblem dieser ultimativen Disziplin sei »Ordnung« - ein Begriff, den er als Problem der Gesellschaft und deren Organisation versteht und in die Differenz von Statik (l'ordre) und Dynamik (le progrès) übersetzt. Laufend durchkreuzten einander eine »verhängnisvolle Tendenz zur ... Auflösung« und eine vielleicht nicht minder verhängnisvolle Tendenz zur »Befestigung der Ordnung« (a.a.O., S. 6 und 7). Es sei die Soziologie selbst, die sich diesem Verhängnis entgegenstemmt.
Als Georg Simmel ein zähes halbes Jahrhundert später eine neue »Ortsbestimmung« dieser Disziplin und ihres Bezugsproblems vornimmt, schlägt er vor, sich solchen fatalistischen »Größenwahns« zu enthalten (vgl. Soziologie, 1908/1992, S. 9 und 31). Er hält am Ordnungsproblem fest, versteht aber Gesellschaft nicht als notorisch brüchige Organisation, sondern als »Meer« ineinander verwobener Beziehungen zwischen Individuen (a.a.O., S. 14). Über diese Individuen selbst könne man jenseits ihrer immer flüssigen Umgebung nichts wissen. »Das Problem« der Soziologie liege deshalb nicht in einer Befestigung der sozialen Ufer, sondern in der Frage, »wie Gesellschaft möglich ist«, wenn sie aus Elementen besteht, die sie nicht disziplinieren und derer sie nie sicher sein kann (vgl. a.a.O., S. 42ff.).
Talcott Parsons studiert wenige Jahrzehnte später eigens in Europa, um diese Unsicherheit als Bestandsproblem verstehen zu lernen. Er übersetzt das Ordnungsproblem in die Unterscheidung von Struktur und Prozess, die er als »›structural-functional‹ level of analysis« bezeichnet und unter dem Namen des sozialen Systems ausarbeitet (The Social System, 1951, S. vii). Dabei geht es ganz einfach um relational verknüpfte, kontextualisierte Handlungen. »The problem of order« bleibt dabei ausdrücklich ein Organisationsproblem, und zwar insbesondere dann, wenn in sozialen Beziehungen über knappe Güter oder strittige Ziele verbindlich entschieden werden muss (a.a.O., S. 71, vgl. ch. III). An die Stelle der fatalen Komplementarität von Auflösung und Befestigung, wie Comte sie entworfen hatte, tritt damit die sehr zukunftsoffene Komplementarität von ›action‹ und ›decision‹, von Öffnung und Schließung. Soziologie, so Parsons, heiße »analyzing the organization and dynamics of complex social systems« (a.a.O., S. 73).
Aber noch in den 1960er Jahren stellt Niklas Luhmann fest, angesichts einer kaum zu erkennenden »Einheit des Fachs« sei die Soziologie »ziemlich undiszipliniert« (Soziologische Aufklärung 1, 1970, S. 113). Sein Vorschlag läuft darauf hinaus, sowohl Comtes Präferenz für auflösungsresistente Ordnung als auch Parsons' Präferenz für strukturellen Bestand aufzugeben und statt dessen »die Gesamtheit der möglichen Ereignisse« im Kontext der Differenz von »System und Welt« zu beobachten (a.a.O., S. 115). Das Bezugsproblem der Soziologie bleibt die Möglichkeit sozialer Ordnung, die sie unter dem Namen des Systems hinsichtlich der Möglichkeit von Gesellschaft und der Möglichkeit von Organisation untersucht. Aber sie konzipiert dieses Problem jetzt in Form zweier neuer Schlüsselbegriffe: Kontingenz und Komplexität.