Mit Individualität zu rechnen, heißt, mit der Organisation zu rechnen, der Strukturform der Schrift- und vor allem der Buchdruckgesellschaft. Um diese Komplikation geht es, wenn von Individualität die Rede ist: Individuum ist, wer mit sich rechnen lässt im Raum der bürokratisch beobachtenden, ihre Beobachtungen formalisiert registrierenden Organisation: in pädagogischen, wohltätigen, militärischen, polizeilichen Anstalten, in staatlichen Behörden und in ökonomischen Betrieben. Sie alle betrachten den Menschen als auf dem Papier identifizierbare Einzelheit, die weiterer Nachfrage nicht bedarf, so sehr auch immer diese papierne Identifikation Nachfragen provozieren und auch forcieren kann: nach Seelen, Körpern, Psychen, nach dem Bewusstsein, der Persönlichkeit, den Motiven von Erleben und Handeln und vielem anderen. In der Beobachtung der Organisation – in ihrem Kalkül – wird jede Seele, jeder Körper, jedes Bewusstsein, jede Persönlichkeit, jedes Motiv zur nicht weiter zu differenzierenden, minimalkompakten Einzelheit, zu einem – im Wortsinne – calculus, einem Rechenstein: einem Individuum.
Maren Lehmanns Untersuchung führt zu einer überzeugend formulierten Neukonzeptualisierung der soziologischen Individualitätstheorie im Kontext der Differenz von bürokratischer Organisation und kommunikativem Netzwerk. Sie bildet den Anfang eines umfassenden Forschungsprojekts, das sich mit dem Gedächtnis der Organisation als einem komplexen Algorithmus sozialer Ordnung befasst.
Maren Lehmann: „Mit Individualität rechnen. Karriere als Organisationsproblem“, Verlag Velbrück Wissenschaft, Weilerswist-Metternich, 380 Seiten, ISBN-10: 3942393190, ISBN-13: 978-3942393195