Der Bundesrat gilt als das Verfassungsorgan auf Bundesebene, das in erster Linie die Interessen der Länder vertritt. Im Unterschied etwa zum Bundestag, in dem es aus parteipolitischem Kalkül zu hitzigen Debatten kommt, herrscht dort ein betont sachlicher, gemäßigter Ton. Doch ist der Bundesrat wirklich weniger von Parteipolitik geprägt? Mit dieser Frage befasst sich ein soeben von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) bewilligtes Forschungsprojekt von ZU-Professor Dr. Markus Müller, Honorarprofessur für Politik- und Verwaltungswissenschaft, zusammen mit Prof. Dr. Roland Sturm, Ordinarius für Politische Wissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Es ist auf zwei Jahre angelegt, hat ein Volumen von rund 240.000 Euro und „Parteipolitik im Bundesrat. Analyse anhand der Voten in den Ausschüssen des Bundesrates“ zum Thema.
Befasst sich in einem DFG-Forschungsprojekt mit „Parteipolitik im Bundesrat“: ZU-Honorarprofessor Dr. Markus Müller. (Foto: Felix Kästle)
Es war der 22. März 2002, als der Bundesrat über ein neues Zuwanderungsgesetz abzustimmen hatte. Und es war eine Sitzung, die in die Annalen des Bundesrates eingehen sollte. Denn sie endete mit einem Eklat – aus parteipolitischem Kalkül. Auslöser war das Abstimmungsverhalten des damals von SPD und CDU regierten Landes Brandenburg und die Auslegung dazu. Die beiden Vertreter Brandenburgs, Sozialminister Alwin Ziel (SPD) und Innenminister Jörg Schönbohm (CDU), stimmten mit „Ja“ (Ziel) und „Nein“ (Schönbohm) – und gaben damit ein nicht gültiges Votum ab, da Länder im Bundesrat laut Grundgesetz nur einheitlich abstimmen können.
Was daraufhin folgte, führte zu vorher wie nachher nie wieder gesehenen Tumulten im Plenarsaal des Bundesrates. Der damalige Bundesratspräsident Klaus Wowereit (SPD) fragte nämlich Brandenburgs Ministerpräsidenten Manfred Stolpe (SPD) direkt, wie denn nun das Land Brandenburg abstimme. Daraufhin Stolpe: „Als Ministerpräsident des Landes Brandenburg erkläre ich hiermit Ja.“ Und sein Innenminister Schönbohm (CDU) erwiderte: „Sie kennen meine Auffassung, Herr Präsident!“. Daraufhin Wowereit (SPD): „Damit stelle ich fest, dass das Land Brandenburg mit Ja abgestimmt hat.“
Daraufhin brachen tumultartige Szenen aus. Es gab minutenlanges Gebrüll, wütende Zwischenrufe, rhythmisches Klopfen auf die Bänke. Vor allem von Hessens Ministerpräsidenten Roland Koch und seinem saarländischen Amtskollegen Peter Müller (beide CDU) wurde Wowereit „eiskalter Rechtsbruch“, ja Verfassungsbruch vorgeworfen. Indes: Trotz angeblicher Empörung konnte sich selbst Koch in der Sitzung ein Grinsen nicht verkneifen, und Peter Müller ergötzte sich hinterher vor Publikum über die Kunst der politischen Inszenierung. „Die Empörung haben wir verabredet“, gab Müller offen zu. Der vermeintliche Eklat in der Länderkammer sei zwar ein Theater gewesen, es habe sich aber um ein legitimes Theater gehandelt, so Müller. Der Öffentlichkeit vermittelte sich so ein Bild von Parteien, denen die Inhalte nahezu egal, aber parteipolitische Machtspiele zentral erscheinen.
Nur selten wird Parteipolitik in diesem Gremium so offenbar wie an jenem 22. März 2002. „Die Überlagerung von Landesinteressen durch Parteipolitik im Bundesrat gehört spätestens seit der so genannten Strukturbruchhypothese des Konstanzer Politikwissenschaftlers Gerhard Lehmbruch zu den wichtigen Topoi politikwissenschaftlicher wie politischer Diskurse zur Funktionsfähigkeit der Institutionen des deutschen Regierungssystems“, erläutert Markus Müller den theoretischen Ansatz des Forschungsprojektes. Aus Sicht der Wissenschaft habe „einer systematischen empirischen Analyse bisher die weitgehend fehlende amtliche Dokumentation des individuellen Abstimmungsverhaltens der Landesregierungen im Plenum des Bundesrates entgegengestanden“. Die Forschung habe deshalb notgedrungen Schlussfolgerungen aufgrund der parteipolitischen Zusammensetzung des Bundesrates beziehungsweise der dort vertretenen Landesregierungen gezogen und auf indirekte Evidenz, wie Anrufungen des Vermittlungsausschusses, auf statistische Schätzungen oder Einzelfallanalysen und quasi-anekdotische Beobachtungen zurückgreifen müssen. Müller: „Alle diese Zugänge bleiben von den eigentlichen Entscheidungsforen, dem Plenum des Bundesrates und seinen Ausschüssen, relativ weit entfernt.“ Und dorthin richtet sich jetzt Müllers und Sturms Blick.
„Unser Projekt überwindet dieses Defizit. Wir schlagen eine Fokussierung auf die Voten in den Ausschüssen des Bundesrates vor“, erläutert Müller die Vorgehensweise. „Wir arbeiten mit zugänglichen, gut dokumentierten Ausschussunterlagen dreier exemplarischer Zeiträume der 1950er, 1970er und 2000er Jahre. So kann auf breiter empirischer Basis die vermutete parteipolitische Überlagerung von Bundesratsentscheidungen, wo vorhanden, identifizierbar gemacht werden.“ Die Robustheit der Befunde im Hinblick auf ihre Aussagekraft für den Bundesrat als Gesamtorgan soll dann mit Hilfe eines Abgleichs tatsächlich verfügbarer Plenardaten mit Voten mehrerer Ausschüsse sowie einer begrenzten Anzahl von Einzelfallanalysen und Interviews zur Plausibilisierung der Befunde getestet werden.