Etwa 60 Prozent aller Besucher von Kunstmuseen sind weiblich, 40 männlich. Dabei knüpfen Frauen und Männer ganz eigene Erwartungen an einen Museumsbesuch, bewegen sich teils unterschiedlich durch eine Ausstellung, nehmen Kunstwerke auf verschiedene Weise wahr und erinnern sich an andere Werke, so als wären sie in verschiedenen Ausstellungen gewesen. Zu diesem Ergebnis kommt die aktuelle Forschungsstudie „Subtle Differences: Men, Women and their Art Reception“ von ZU-Professor Dr. Martin Tröndle, Inhaber des WÜRTH Chair of Cultural Production.
Lehrt und forscht in den Bereichen Kunst- und Kultursoziologie, Kulturpolitik und Kulturmanagement, Kunstforschung und empirische Ästhetik: ZU-Professor Dr. Martin Tröndle.
Für die Studie, die im Rahmen des Forschungsprojekts „eMotion: mapping museum experience“ durchgeführt wurde, war im Kunstmuseum St. Gallen eigens eine heterogene Ausstellung konzipiert worden. Sie zeigte einen Querschnitt durch 120 Jahre Kunstgeschichte und diverse Kunstgattungen von Ölgemälden und Skulpturen bis hin zu Zeichnungen und Druckgraphiken. Mit etwa 600 Ausstellungsbesuchern führten Projektleiter Tröndle und sein Team unmittelbar vor und nach dem Rundgang eine Eingangs- und eine Ausgangsbefragung durch. „Zusätzlich wurde jeder der Besucher mit einem Handschuh ausgestattet, der Bewegungsdaten und physiologische Werte aufzeichnete, und in einer abschließenden Befragung vier Wochen nach dem Ausstellungsbesuch wurde erhoben, woran sich die Teilnehmer der Studie erinnerten“, erläutert Tröndle.
Die Ergebnisse der Studie zeigen: Frauen rezipieren Kunst anders als Männer. Bereits bei der Eingangsbefragung ergeben sich erste signifikante Unterschiede. „Während Männer den Unterhaltungsaspekt in den Mittelpunkt rücken, geben Frauen an, mit dem Ausstellungsbesuch ihr Kunstverständnis vertiefen und sich emotional wie intellektuell mit den Werken auseinandersetzen zu wollen“, sagt Tröndle. Beim anschließenden Rundgang durch die Ausstellung, so die Studie, nehmen sich weibliche Besucher doppelt so viel Zeit für das Lesen der Text- und Informationstafeln wie Männer. „Erstaunlich ist zudem, dass sowohl die männlichen als auch die weiblichen Teilnehmer der Studie ein besonderes Interesse an Porträts haben“, erwähnt der Kulturwissenschaftler. Allerdings mit klarer Präferenz: Männer interessieren sich mehr für männliche Porträts und Geschichten, Frauen dagegen mehr für weibliche. Tröndle schlussfolgert daraus: „Museumsbesucher haben ein hohes Interesse an Selbst-Aktualisierung und Selbst-Identifikation.“
Dass Frauen und Männer unterschiedliche Emotionen beim Betrachten eines Kunstwerks zeigen, darauf weisen die gemessenen physiologischen Werte hin. „Frauen sind während des Museumsbesuchs häufiger emotional bewegt und haben generell intensivere Gefühle als Männer“, führt Tröndle aus. „Männer hingegen reagieren gefühlsmäßig generell negativer. Manche Kunstwerke stimmen sie sogar traurig.“ Deutliche Unterschiede belegt auch die abschließende Befragung vier Wochen nach dem Ausstellungsbesuch. „Männer erinnern sich an völlig andere Kunstwerke als Frauen. Sie erinnern sich an so unterschiedliche Dinge, als wären sie in zwei verschiedenen Ausstellungen gewesen“, fasst Tröndle zusammen. Auch wenn sich Männer wie Frauen jeweils an Porträts ihres eigenen Geschlechts erinnern, so behalten weibliche Besucher ein genaueres Bild von kuratorischen Aspekten wie die Inszenierung von Kunstwerken oder das Arrangement der Ausstellung im Gedächtnis.
Mit seiner Studie betreibt Tröndle Grundlagenforschung. Vielleicht aber leisten seine empirischen Daten auch einen Beitrag zur Gender-Debatte in der Kunst. „Diese Debatte ist bislang stark normativ geprägt gewesen“, erklärt Tröndle. „Sie orientiert sich mehr daran, was sein sollte und weniger daran, was tatsächlich ist. Und das, was ist, dazu gab es bislang kaum empirische Forschung.“ Darüber hinaus dürften die Ergebnisse der Studie auch für Museen von praktischem Nutzen sein. „Kuratoren beispielsweise könnten künftig dem hohen Anteil weiblicher Museumsbesucher besser gerecht werden, indem sie stärker auf Information setzen oder die Ausstellung nach weiblichen Präferenzen gestalten“, erläutert Tröndle. „Will man hingegen Männer in eine Ausstellung locken, muss man diese nur unterhalten.“
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