Johanna Reiß hat eine Vision: Sie möchte in ihrem späteren beruflichen Leben in Unternehmen und Organisationen einen Beitrag zur verantwortungsvollen Gestaltung einer nachhaltigen und fairen globalen Zusammenarbeit leisten. Dabei hat die familiäre und schulische Erziehung dazu beigetragen, dass aus ihr eine selbstbewusste, reflektierende und sozial engagierte Persönlichkeit geworden ist. Und ein Ereignis hat Reiß in ihrem Denken und Handeln noch bestärkt: Sie absolvierte nach ihrem Abitur einen siebenmonatigen Freiwilligendienst in einer NGO in Indien, lernte eine andere Lebenswirklichkeit kennen. An der ZU studiert sie im dritten Semester den Bachelor-Studiengang SPE, wirkt bei vielen studentischen Projekten mit und möchte nun die Zusammenhänge zwischen Wirtschaft, Kultur und Politik besser verstehen.
Als UNESCO-Projekt-Schule hat das von Johanna Reiß besuchte Gymnasium früh entschieden, eine Partnerschaft mit einer indischen Brückenschule aufzubauen – eine Einrichtung für Schulabbrecher und ehemalige Kinderarbeiter, denen durch intensive Förderung und spezielle Betreuung eine Eingliederung in das normale Schulsystem ermöglicht werden soll. Initiiert und koordiniert wird die Partnerschaft von der Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie (KKS). „Neben den finanziellen Spenden hielten wir Schüler durch Briefwechsel regelmäßigen Kontakt mit den indischen Kindern“, sagt Reiß. „Dabei wurde etwas in mir wach, der Wunsch, einen tatsächlichen Einblick in die Lebenswirklichkeit dieser Kinder zu gewinnen und das Leben in seiner Andersartigkeit und Widersprüchlichkeit zu erleben.“ Dieser Wunsch sollte sich alsbald realisieren. Nach dem Abitur war es soweit: Von der KKS entsandt, erhielt sie einen Platz im Freiwilligendienst „weltwärts“, einem Programm des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
In Indien angekommen, ging es für Reiß in den ersten vier Wochen zunächst darum, die handelnden Akteure genauestens zu beobachten. „Dabei gilt es zu erkennen, welche Herausforderungen sich in dem Kontext stellen und wie ich mich als Freiwillige in die Arbeitsfelder meiner Gastorganisation am besten einbringen kann“, erläutert Reiß. Anschließend realisierte sie eigene Projekte, unterrichtete die indischen Schüler in Fächern wie Englisch, EDV und Sport und bearbeitete einige Aufträge für die KKS. So hat sie die Betreuung eines Blogs übernommen und gemeinsam mit einer Partnerin an Fallstudien gearbeitet. „Wir haben Interviews mit ausgewählten Kindern und deren Eltern oder deren Dorfgemeinschaft geführt und die gesammelten Daten ausgewertet“, sagt sie. Doch die Arbeit gestaltete sich nicht immer einfach: „Es ist immer wieder eine persönliche Herausforderung gewesen, im interkulturellen Kontext das Fremde einerseits verstehen zu lernen und anzunehmen, andererseits jedoch für manche der eigenen Werte bedingungslos einzustehen. Insbesondere in Bezug auf die Disziplinierung von Kindern war das eine wirkliche Grenzerfahrung“, behauptet Reiß.
Insgeamt hat sich der Freiwilligendienst für Johanna Reiß als lehr- und lernreiche Lebenserfahrung erwiesen: „Ich habe nicht nur eine Menge über internationale und interkulturelle soziale Arbeit gelernt, sondern bin dort auch Menschen begegnet, die mich nachhaltig geprägt haben, die so elementar für mein Leben geworden sind, obwohl sie nur sieben Monate Teil meines Lebens waren“, sagt Reiß. „Die Reise nach Indien war ein wesentliches Ereignis in meinem bisherigen Leben und hat meine persönliche Entwicklung immens vorangebracht.“ Dabei hat sie ein bedeutsames Erlebnis besonders inspiriert: „Während eines Aufenthaltes des Stiftungsvorstandes der KKS, Ralf Tepel, bei unserer Gastorganisation besuchten wir gemeinsam verschiedene Projekte nachhaltiger Landwirtschaft, trafen Dorfgemeinschaften und Frauenselbsthilfegruppen. Mit welch großer Wertschätzung er den Menschen vor Ort begegnet ist, auf Augenhöhe und im Dialog, das hat mich sehr beeindruckt und geprägt“, erzählt Reiß. „Das hat mein Interesse an internationaler und interkultureller Stiftungsarbeit für und mit Menschen geweckt.“
Dass eine solche Reise auch Probleme mit sich bringt, das wurde Johanna Reiß schlagartig bewusst, als sie nach Deutschland zurückkehrte. „Im Supermarkt zu stehen und zwischen 50 Joghurts wählen zu können, das hat mich überfordert“, gibt Reiß zu. Und auch zwischenmenschlich hatte sich einiges verändert. „Meinen Verwandten und Freunden habe ich vor allem kurz nach meiner Rückkehr immer wieder von meinen Erfahrungen berichten wollen, habe mich aber nie zu 100 Prozent verstanden gefühlt. Und ich habe gemerkt, dass ich nicht mehr die bin, die ich war – weder in Deutschland noch in Indien“, betont sie. Um ein Stück weit ihr Mitteilungsbedürfnis zu stillen und der KKS etwas zurück zu geben, hat Reiß mehrere Vorträge und Veranstaltungen in sozialen Einrichtungen gehalten. „Besonders wichtig ist es, den Zuhörern eine individuelle Perspektive abseits des von den Medien vermittelten Indienbildes zu präsentieren, sie zum Nachdenken anzuregen und als Brückenbauerin auch hier in Deutschland dem Bildungsauftrag des „weltwärts“-Programmes nachzukommen“, erläutert Reiß.
Darüber hinaus war es ihr ein Anliegen, nach dem Freiwilligendienst die klassische Entwicklungszusammenarbeit aus anderen Perspektiven kennenzulernen. So absolvierte sie ein sechswöchiges Praktikum bei der KKS und arbeitete dort im Anschluss als Aushilfskraft. Zu ihren ersten eigenen Projekten gehörten die Gestaltung und der Vertrieb eines Fotokalenders. „Mit dem erwirtschafteten Geld konnten wir einen wichtigen Beitrag zum Bau eines indischen Kinderheimes leisten“, sagt Reiß voller Stolz. Doch ein Puzzleteil – wie sie selber sagt – fehlte ihr noch: Die Wiederkehr nach Indien. „Ich hatte schlichtweg Angst, dass das, was ich in Indien erlebt und gelernt hatte, vorbei oder vergessen sein könnte, ich mich durch Deutschland wieder befremdet hätte“, erklärt sie. So reiste sie für zwei Monate erneut nach Indien. „Einsätze in anderen NGOs und Projekten haben mir dann gezeigt, dass ich die bleiben konnte, zu der ich mich im bisherigen Austausch entwickelt hatte. So konnte ich das zweite Mal aus Indien abreisen, bereit, mich auf einen Neuanfang in Deutschland einzulassen.“
Ein wichtiger Teil dieses Neuanfangs war die Aufnahme des Studiums an der ZU. Doch wie kam sie überhaupt auf die ZU? „Während eines Berufsinformationstages an meinem Gymnasium lagen Broschüren der Universität aus. Beim Durchblättern sprach mich die Idee des interdisziplinären Studiums an und insbesondere das ,in-Projekten-lernen‘“, erläutert Reiß. Jahre später, sie war gerade in Indien unterwegs und in Gedanken, was nach ihrer Zeit dort kommen möge, erinnerte sie sich wieder daran. „Bei meiner Ankunft im Quartier habe ich meinen Laptop eingeschaltet und auf der Homepage der ZU gestöbert. Da tauchte plötzlich der neue Studiengang SPE auf, von dessen Inhalten ich sofort begeistert war“, erzählt sie. Nach Deutschland zurückgekehrt, bewarb sie sich sogleich auf einen Studienplatz, kam zum Auswahltag und erhielt wenig später die Zusage. „Ich bin nach wie vor froh über meine Studienwahl: Mir gefällt das gemeinschaftliche Lernen in kleinen Gruppen und der persönliche Austausch zwischen den Wissenschaftlern und den Studierenden. Und ich erkenne mehr und mehr, welche Komplexität nachhaltige und faire globale Entwicklung durch Einfluss von Wirtschaft, Kultur und Politik innehat.“ Neugierig, diese komplexen Zusammenhänge weiter verstehen zu lernen, hat sie nun begonnen, am European Center for Sustainability Research |ECS an der ZU als studentische Hilfskraft in einem Forschungsprojekt zum Thema „Energy Cultures“ zu arbeiten.
Auch außerhalb des Studiums engagiert sich Johanna Reiß auf vielfältige Weise. So ist sie Vorstand bei „The Soapbox | Club für angewandte Rhetorik“. „Meinen Kommilitonen einen Raum zur Verfügung zu stellen, ,learning by doing‘ wirkungsvolles Sprechen und Auftreten auszubauen, liegt mir sehr am Herzen. Denn jeder hat das Potential, sich weiterzuentwickeln – Wortakrobaten genauso wie Lampenfibrige", sagt Reiß. Darüber hinaus ist sie Mitglied in der Senatskommission „Prüfungswesen“ und fungierte als Betreuerin für Social Media bei der Europawahl-Kampagne „I vote Europe“. Für ihr Engagement zeichnete die ZU sie 2013 mit einem Deutschlandstipendium aus, im Winter wurde sie dann in die Studienförderung der Stiftung der Deutschen Wirtschaft aufgenommen.
Im Sommer folgt nun ein Praktikum bei der Deutschen Bank AG im Bereich Corporate Citizenship. „Denn besonders die Auswirkungen der Finanzwirtschaft auf die sozialen Verhältnissen sind so maßgeblich“, betont Reiß. „Gleichzeitig bedeutet das Praktikum einen erneuten Perspektivwechsel für mich. Ich bin gespannt, inwieweit sich das Finanzsystem von innen heraus verantwortungsvoll gestalten lässt und ein Beitrag zu meiner Idee nachhaltiger und fairer globaler Entwicklung leisten kann.“ Und mit einem Augenzwinkern fügt sie hinzu: „Und es kann nur von Vorteil sein, die Denk- und Handlungsweise seiner Mitspieler zu kennen – ob später als Sozialunternehmerin oder Stiftungsvorstand.“