Mariana Patiño hat Mut bewiesen, als sie in ihrer Jugend vom krisengeschüttelten Venezuela nach Deutschland auswanderte, um sich ein neues Leben aufzubauen. Sie fand sich schnell zurecht und lernte die deutsche Sprache in Windeseile – immer das Ziel im Blick, ein Studium an einer deutschen Universität aufzunehmen. Dank ihrer ausgeprägten Wissbegierde und Zielstrebigkeit schaffte sie schließlich den Sprung an die ZU. Auch hier scheut sie kein Risiko, was vor allem ihre Forschung beweist.
Mariana Patiño ist im venezolanischen Valencia geboren – und hat in ihrer Kindheit und Jugend in nur wenigen Jahren den Wandel des Landes von einer prosperierenden Volkswirtschaft in eine Hyperinflation miterlebt. „Ich würde dennoch behaupten, dass ich ganz normal aufgewachsen bin, soweit man eben davon sprechen kann, in einem krisengebeutelten Land wie Venezuela normal aufgewachsen zu sein“, bemerkt Patiño. Nicht nur von ihren Eltern – die Mutter Beamtin in der Stadtverwaltung, der Vater Unternehmer – dazu ermuntert, hat sie von sich aus alles um sich herum genauestens wahrgenommen. „In der Familie wurde ständig über die politische und wirtschaftliche Situation in Venezuela gesprochen und wie sie sich auf die Gesellschaft auswirkt. Und auch im Alltag kam ich nicht daran vorbei. Die Krisen und Sorgen standen und stehen den Menschen auf den Straßen ins Gesicht geschrieben“, erwähnt Patiño.
Die Schule, die sie besuchte, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von deutschen Einwanderern gegründet. Doch schon lange wurde nicht mehr auf Deutsch unterrichtet, sondern längst war auf den Fluren und den Klassenräumen ausschließlich Spanisch zu hören. Einzige Ausnahme: Deutsch als Fremdsprache blieb im Lehrplan, allerdings reduziert auf eine Stunde pro Woche. Dass sie als Klassenbeste die Schule abschloss und für ihre Leistungen mit einem Award ausgezeichnet wurde, änderte nichts an den Zukunftsperspektiven, die sie in Venezuela erwarteten: Sie fühlte sich perspektivlos. Also entschied sie sich – wie viele junge Menschen ihrer Generation – auszuwandern und damit das Wagnis einzugehen, in einem anderen Land das Glück zu suchen.
Bereits in ihrem letzten Schuljahr schrieb sie zahlreiche Bewerbungen, um an ein Stipendium für ein Austauschjahr im Ausland zu kommen. Deutschland stand dabei weiter unten auf ihrem Zettel, sprach sie neben ihrer Muttersprache Spanisch fließend Französisch, während sie Deutsch nur bruchstückhaft beherrschte. Und doch freute sie sich schon bald über eine Zusage vom Ferdinand-Porsche-Gymnasium in Stuttgart. Dort besuchte sie eine internationale Klasse, die Schülerinnen und Schülern interkulturelle Erfahrungen ermöglicht. „Natürlich war meine größte Sorge und die meiner Eltern, dass ich mit der neuen Lebenssituation in Deutschland nicht zurechtkomme“, erzählt Patiño. „In dieser Hinsicht habe ich meiner Gastfamilie unendlich viel zu verdanken, weil sie mich in meinem Vorhaben, in Deutschland zu studieren, positiv bestärkt und mir immer alles zugetraut haben.“
Daheim wurde Deutsch gesprochen, im Unterricht Englisch, sodass sie ihrem Ziel näherkam, auch diese beiden Sprachen fließend zu sprechen. Neben dem schnellen Erlernen der deutschen Sprache rückte auch ein weiteres, neues Ziel in greifbare Nähe: die Hochschulzugangsberechtigung – denn noch fehlten ihr zwei Jahre für das Abitur. Eine Abkürzung war auf der HTWG Konstanz möglich, die ein Studienkolleg anbietet, auf dem Mariana Patiño auf wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Studiengänge vorbereitet wurde. Mit den erfolgreich bestandenen Abschlussprüfungen hatte sie das fachgebundene Abitur erworben, mit dem sie sich nun für ein Studium an einer deutschen Universität bewerben konnte. Was ihr schwerer fiel, war die Entscheidung, wie sie ihre Interessen an Politik und Wirtschaft in einem Studiengang vereinen konnte. „Zum Glück hatte ich mit der ZU eine Universität gefunden, die nicht nur beide Studienfächer anbietet, sondern auch einen Studiengangwechsel nach dem ersten Studienjahr ermöglicht“, berichtet Patiño. „Das, der direkte Draht zu den Dozierenden und das von der Universität geförderte studentische Engagement haben mir meine Entscheidung erleichtert.“
Mariana Patiño selbst ist vielseitig engagiert: In Konstanz leistete sie einer Seniorin Gesellschaft, die an Multipler Sklerose erkrankt ist; in Stuttgart hat sie als Praktikantin für das Fraueninformationszentrum und damit für eine Beratungsstelle unter anderem für Migrantinnen und geflüchtete Frauen gearbeitet. „Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schwer es für Neuankömmlinge in Deutschland ist, bürokratische Hürden zu überwinden. Dieses Wissen an andere weiterzugeben, war für mich selbstverständlich, aber auch in gewisser Weise erfüllend“, sagt Patiño.
Getreu ihrem Motto „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“ unterstützte sie zudem den Deutschunterricht für geflüchtete Kinder in einer Integrationsklasse an der Ludwig-Dürr-Schule in Friedrichshafen. „Es war wirklich beeindruckend zu sehen, wie schnell Kinder die deutsche Sprache erlernen, wenn sie nur richtig gefördert werden und zur richtigen Zeit die richtigen Begleitpersonen haben“, bemerkt Patiño. Ganz in diesem Sinne war sie an der ZU als Vorstand der International Student Group aktiv. Sie organisierte Events, um die internationalen Studierenden besser in das universitäre und studentische Leben zu integrieren und unterstützte diese bei Fragen rund um den Aufenthalt in Deutschland.
Auch wenn ein Studiengangwechsel an der ZU möglich ist, hatte ihn Mariana Patiño nicht vorgesehen – und doch kam es so. Zu diesen vielen Engagements kam ein neues Interesse hinzu: „In Deutschland habe ich mich erstmals getraut zuzugeben, dass ich nicht nur ein Sprachen-, sondern auch ein Mathematik-Nerd bin“, bemerkt Patiño. Bereits an der HTWG Konstanz lernte sie die Programmiersprache VBA, die für Microsoft-Office-Anwendungen entwickelt wurde. An der ZU führte sie ihre Leidenschaft fürs Programmieren, unter anderem in R und Python, zur Initiative „CodeCats“, die Studierende in den Bereichen Coding, Technologie und Digitalisierung weiterbildet.
Als Werkstudentin in der IT bei der Rolls-Royce Power Systems AG beteiligte sie sich an der Gestaltung von agileren Arbeitsprozessen, als Praktikantin bei McKinsey & Company nach ihrem dritten Semester begleitete sie in einem Projektteam die digitale Transformation einer deutschen Versicherung. „Besonders das logische Denken und die handwerkliche Präzision machen das Programmieren für mich so faszinierend“, erklärt Patiño. „Meiner Meinung nach muss man aber nicht programmieren können, um die digitale Welt zu verstehen, auch geisteswissenschaftliche Perspektiven sind gefragt.“ Daher organisierte sie im Rahmen der Initiative CodeCats für ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen Ausflüge etwa zur Microsoft Deutschland GmbH, bei denen den Teilnehmern verschiedensten Berufe vorgestellt wurden.
Genauso wie das Programmieren begeistert sie auch die Sprache der Mathematik – einer der Gründe, warum Mariana Patiño nach den ersten zwei Semestern von PAIR zu CME wechselte. „Ich habe zudem gemerkt, dass die Politik meine Erinnerungen an meine persönlichen Erlebnisse in Venezuela geweckt hat, was mich viel Energie gekostet hat“, ergänzt Patiño. Nach ihrem Wechsel fokussierte sie sich auf Wirtschaftsmathematik und quantitative Methoden. Das führte sie zum einen für ein Semester an die University of Southern Denmark, wo sie Vorlesungen in der mathematischen Fakultät besuchte; zum anderen an den Lehrstuhl für Empirische Kapitalmarktforschung und Ökonometrie, wo sie Tutorien für Wirtschaftsmathematik, Angewandte Statistik und Ökonometrie leitete und sich mit Extremereignissen auf Aktien- und Finanzmärkten beschäftigte.
„In meinen Forschungen habe ich danach gefragt, wie wahrscheinlich es ist, dass zukünftig ein noch schlimmeres Extremereignis als alle bisher bekannten wie die weltweite Finanzkrise von 2008 oder jetzt die Corona-Pandemie eintritt und wie sich Aktien- und Finanzmärkte darauf besser vorbereiten können“, beschreibt Patiño. „In meiner Bachelorarbeit etwa habe ich anhand von mathematischen Modellen aus der Erdbebenforschung Zukunftsprognosen für Kursverläufe auf Aktienmärkten angestellt. Vereinfacht ausgedrückt: So wie Erdbeben und Nachbeben in Regionen aufgrund von unruhigen Plattenbewegungen, so können auch Verluste und Nachverluste an Börsen aufgrund von unruhigen Marktbewegungen vorhergesagt werden.“
Risikomanagement sowie Data Science sind Felder, mit denen sie sich demnächst auch als Junior Fellow bei McKinsey & Company weiter auseinandersetzen möchte. „Ich bin überzeugt, dass zum Beispiel das Gesundheitssystem und Versicherungen von meinem Wissen bezüglich Risikoanalysen profitieren können“, erläutert Patiño. „Und selbstverständlich werde ich einen Blick nach rechts und links riskieren und nicht davor zurückschrecken, mich in neue Themen einzuarbeiten.“ Eines ist so gut wie sicher: Nach einigen Jahren plant sie eine Auszeit, um sich in einem Master und eventuell einer Promotion weiter mit der quantitativen Risikomodellierung von Extremereignissen zu beschäftigen und weitere Beiträge zur Forschungsliteratur zu leisten.