01.01.2022

Annika Phuong Dinh

Annika Phuong Dinh ist nicht nur eine Bildungs-, sondern auch eine soziale Aufsteigerin. Als erstes Kind einer vietnamesischen Gastarbeiterfamilie machte sie das Abitur und ging an eine Universität. Dabei führte sie ihr Weg von einem Bachelor an der Universität Hamburg zu einem Master an der ZU – aktuell strebt sie darüber hinaus eine Promotion am Leadership Excellence Institute Zeppelin | LEIZ an. Ihr Wissen und ihre Erfahrungen gibt sie nicht nur an Menschen mit Migrationsgeschichte weiter, sondern möchte diese auch für ihre transkulturellen Forschungen nutzen.

Foto: Samuel Groesch


Annika Phuong Dinh ist als ältestes Kind von Eltern auf die Welt gekommen, die ursprünglich als vietnamesische Vertragsarbeiter in die DDR auswanderten. Die Mutter wurde mit ihrer Tochter zwar nach der Wende im vereinten Deutschland schwanger, brachte sie aber in Vietnam zur Welt. „Meine Eltern hatten mit der deutschen Einheit ihre Jobs verloren. In dieser Situation war ihnen daran gelegen, ihr eigenes Leben zu regeln und mir zugleich die Möglichkeit zu geben, in einem gesicherten Umfeld aufzuwachsen“, erläutert Dinh. „Daher habe ich meine ersten Lebensjahre bei meinen Großeltern in Nordvietnam verbracht.“ Erst im fünften Lebensjahr kam sie nach Deutschland, wo sie die nächsten zehn Jahre mit ihren Eltern in einem Plattenbau in einer mecklenburgischen Kleinstadt zusammenlebte. Sie sprach kein einziges Wort Deutsch, ihre Eltern nur gebrochen. Doch im Kindergarten lernte Annika Dinh die deutsche Sprache so zügig, dass bei der Einschulung kaum noch Unterschiede zu den gleichaltrigen deutschen Kindern auszumachen waren.


Dass es von der Grundschule direkt aufs Gymnasium ging, verdankte Annika Phuong DInh ihrer Klassenlehrerin und ihren Eltern, die sie sehr förderten. Auch wenn die Gymnasialzeit von Erfolg gekrönt war und sie das Abitur machte, war diese Zeit keineswegs einfach. „Während meiner gesamten Schulzeit war ich die einzige nicht-deutsche oder nicht-weiße Schülerin unter lauter Alteingesessenen, wodurch der soziale Anschluss schwer war“, bemerkt Dinh. „Besonders in der Pubertät und damit in der Phase der Identitätsbildung habe ich mich verloren gefühlt, weil mir die Vorbilder gefehlt haben, an denen ich mich hätte orientieren können. Denn zum einen stammten auch meine Schulkameraden aus Arbeiterfamilien, zum anderen hatte ich ja keine älteren Geschwister, zu denen ich hätte aufblicken können.“


Sie fühlte sich nicht nur verloren, sondern auch ausgegrenzt, diskriminiert, anders, wie ein Fremdkörper. „Nach dem Abitur hatte ich das Aushängeschild Ausländerin einfach satt“, sagt Dinh. „Und mein Ticket, um aus den sozialen Strukturen auszubrechen und den sozialen Anschluss zu finden, war das Studium.“ Weil sie aber weder wusste, was sie studieren sollte, noch was mit einem Studium überhaupt verbunden ist, machte sie sich eher orientierungslos auf die Suche nach einem passenden Studiengang. Mit einem Talent für Sprachen startete sie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz einen Bachelor in Sprache, Kultur und Translation. „Auch wenn sich das Studium als Fehltritt erwies, entpuppte es sich doch als Türöffner in das universitäre Leben“, erläutert Dinh.


Hatte das Studium in Germersheim den Fokus auf Deutsch, Englisch und Französisch gelegt, fragte sich Annika Dinh: Warum nicht die vietnamesische Muttersprache ausbauen und diese Sprachkenntnisse beruflich einsetzen? „Darüber hinaus wollte ich endlich Vietnamesisch lesen und schreiben lernen und meinen persönlichen Hintergrund aufarbeiten, meine ethnische Zugehörigkeit ergründen und mehr über die Vielfalt Vietnams verstehen“, ergänzt Dinh, die sich mit 18 Jahren als erste aus ihrer Familie für die deutsche Staatsbürgerschaft entschied, um alle Bürgerrechte zu genießen.


Vom Süden ging es wieder zurück in den Norden an die Universität Hamburg, wo sie einen Bachelor in Sprachen und Kulturen Südostasiens mit Schwerpunkt Vietnam und Indonesien und mit Nebenfach Rechtswissenschaften aufnahm. „Ein zweites Schwerpunktland war zwar im Bachelorstudium vorgegeben, aber mich interessierte neben meinem Heimatland vor allem Indonesien, weil ich zu dem Zeitpunkt einen großartigen indonesischen Freundeskreis hatte“, erklärt Dinh. Das erklärt auch, warum sie sowohl in ihrem Auslandspraktikum als auch in ihrem Auslandssemester nicht nach Vietnam, sondern nach Indonesien ging: zum einen, um in einer Sprachschule Deutschkurse für indonesische Schülerinnen und Schüler zu geben, zum anderen, um in Kursen das Wissen über indonesische Sprache, Kultur, Wirtschaft und Recht zu vertiefen. „Als faszinierender empfand ich es jedoch, mit den muslimischen Bräuchen, Ritualen und Traditionen vor Ort eine neue Welt zu betreten“, sagt Dinh.


Neben dem Bachelorstudium arbeitete sie zeitweise für ein Übersetzungsbüro als deutsch-vietnamesische Dolmetscherin am Amtsgericht Hamburg und am Landgericht Flensburg. „Teilweise habe ich auch Gutachter und Sozialarbeiterinnen bei Familienbesuchen begleitet. Dabei habe ich die Lebensrealitäten von anderen vietnamesischen und sozial benachteiligten Familien kennengelernt, woraus nicht nur Freundschaften entstanden sind, sondern auch ein Ehrenamt“, berichtet Dinh. Bis heute gibt sie ihr Wissen und ihre Erfahrungen an Menschen mit Migrationsgeschichte weiter, unterstützt sie bei Bewerbungsverfahren sowie bei der Persönlichkeitsentwicklung.


Als wegweisend für ihren eigenen Lebensweg sollten sich die MUN-Konferenzen erweisen, bei denen junge Menschen in die Rolle von Diplomatinnen und Diplomaten schlüpfen und in simulierten Gremien internationale Politik gestalten. „Allerdings habe ich entdeckt, dass sich die dort besprochenen Themen so gut wie gar nicht um die Region Südostasien drehen“, bemerkt Dinh. „Diese Lücke wollte ich schließen.“ Mit Mitstudierenden aus ihrem Studiengang und in Kooperation mit dem Hanseatic MUN e.V. organisierte sie die erste Model Summits of Asia Hamburg.


Bei weiteren Teilnahmen an MUN-Konferenzen reiste sie in Gedanken durch die Welt, ein wenig später auch in der Realität. Denn zwischen dem erfolgreich abgeschlossenen Bachelor und dem angestrebten Master arbeitete sie knapp zwei Jahre als selbstständige Flugkurierin, um zeitkritische Frachten via Flugzeug und Mietwagen an ihren Einsatzort zu bringen – das führte sie in viele europäische Länder, aber auch in die USA, nach Mexiko, Marokko oder nach Indien. „Damit konnte ich mir meinen Lebensunterhalt finanzieren und zugleich mehr von der Welt sehen“, erwähnt Dinh.


Aufbauend auf dem, was sie in ihrem Bachelor in Südostasien- und Rechtswissenschaften gelernt hatte, suchte sie nach einem den Horizont erweiternden Masterprogramm. So entdeckte sie den PAIR-Master an der ZU und damit genau die richtige Fächerkombination. „Was mich an der ZU bis heute begeistert, sind das generalistische Konzept und der überall zu spürende Pioniergeist“, sagt Dinh, die glücklich über die Zusage war und überglücklich über ein ZU-Stipendium ist.


Angespornt durch das Vollstipendium und mit der Vision, Bildungsgerechtigkeit und Diversität nicht nur als Tutorin und Mentorin von Menschen aus Einwandererfamilien, sondern auch an einer Bildungsstätte zu fördern, übernahm sie das Amt der studentischen Gleichstellungsbeauftragten. Ein Equal Pay Day und ein Diversity Day waren schon organisiert, aber angesichts der aufkommenden Corona-Pandemie ins Wasser gefallen.


Nicht ins Wasser gefallen dagegen ist im vergangenen Jahr eine weitere Auflage des vom LEIZ und ZU-Studierenden organisierten Transcultural Leadership Summit, bei dem sich Expertinnen und Experten zu Fragen der transkulturellen Führung und Kooperation austauschen und der sich diesmal – wie passend – auf die Region Südostasien fokussierte. Als Leiterin des Content Ressort verbrachte Annika Dinh, die auch als studentische Hilfskraft am LEIZ tätig ist, so einige Monate mit Konferenz- und Projektarbeit. „Besonders stolz bin ich darauf, eine Kooperation zwischen der ZU und der Fulbright University Vietnam initiiert zu haben, deren Vertreterinnen und Vertreter sowie Studierenden an unserer Konferenz teilgenommen haben“, betont Dinh. „Und es wird hoffentlich eines Tages möglich sein, Austauschstudierende zwischen den beiden Universitäten zu entsenden.“


Aktuell befindet sich Annika Phuong Dinh in Gesprächen mit dem LEIZ über die Möglichkeiten einer Promotion, die sich direkt an ihren Masterabschluss anschließen würde. „Für mich bietet die Arbeit am LEIZ eine einmalige Gelegenheit, Theorie und Praxis der Transkulturalität mit meinem Wissen zu verbinden“, sagt Dinh. Wenn alles gut geht, dann wird sie noch in diesem Jahr mit der LEIZ-Forschungsgruppe „Transcultural Caravan“ nach Südostasien reisen, um dort Feldforschung zu betreiben und mit Expertinnen und Experten aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft über eine Region zu diskutieren, mit der sie – wie mit Europa – immer tief verbunden bleiben wird.

Zeit, um zu entscheiden

Diese Webseite verwendet externe Medien, wie z.B. Karten und Videos, und externe Analysewerkzeuge, welche alle dazu genutzt werden können, Daten über Ihr Verhalten zu sammeln. Dabei werden auch Cookies gesetzt. Die Einwilligung zur Nutzung der Cookies & Erweiterungen können Sie jederzeit anpassen bzw. widerrufen.

Eine Erklärung zur Funktionsweise unserer Datenschutzeinstellungen und eine Übersicht zu den verwendeten Analyse-/Marketingwerkzeugen und externen Medien finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.