Lutz-Henning Pietsch | Die „Marseillaise der expressionistischen Rebellion“: Jakob van Hoddis’ Gedicht Weltende (1911)
Nie wurde der Kreativitätsbegriff so inflationär verwendet wie heute; von kreativen Städten, kreativen Industrien, kreativen Klassen und einem allgegenwärtigen Kreativimperativ ist die Rede. Immer mehr Diagnosen besagen, dass wir in einem Zeitalter beinahe zwanghafter Massenkreativität leben. Ein solches Selbstverständnis zieht auch eine andere Perspektive auf die Kunstgeschichte nach sich, denn damit verschiebt sich die Bedeutung, die einzelnen Werken und ihren Schöpfern beigemessen wird. Längst sind Begriffe wie „Meisterschaft“, „Schöpfer“ und „Genie“ suspekt geworden. Meist werden sie einer konservativ-bildungsbürgerlichen Sphäre zugerechnet, die mit den emanzipatorischen Idealen einer pluralistischen Gesellschaft nur schwer vereinbar scheint.
Die Ringvorlesung verfolgt die Frage, wie sich Autorschaft, Subjektivität und Vorgänge der massenhaften Verbreitung zueinander verhalten.
Der amerikanische Maler Phillip Guston bemerkte in einer Diskussion: „Painting and sculpture are very archaic forms. It’s the only thing left in our industrial society where an individual alone can make something with not just his own hands, but brains, imagination, heart maybe.“ Zählt es also auch heute noch zu den entscheidenden gesellschaftlichen Funktionen von Kunst, Subjektivität zu behaupten? Wie stellt sich Subjektivität in historischen Beispielen dar? Wie situieren sich einzelne Werke, die man geneigt ist, als Schlüsselwerke der Kunstgeschichte anzusehen, vor diesem Hintergrund?
Im Rahmen der Ringvorlesung gehen Experten aus den Bereichen Kunst-, Musik-, und Literatur- und Filmwissenschaft ausgehend von einzelnen Werken oder Werkgruppen auf diese Fragen ein.
Wie kaum ein anderer Text gilt Jakob van Hoddis’ Gedicht Weltende (1911) als Initialzündung und Inbegriff der expressionistischen Bewegung. „Diese zwei Strophen, diese acht Zeilen schienen uns in andere Menschen verwandelt zu haben“, erklärte Johannes R. Becher rückblickend; Kurt Pinthus eröffnete mit dem Gedicht 1920 seine berühmte Anthologie Menschheitsdämmerung. Worauf beruht die enorme Wirkung des Textes, der in der Literaturgeschichtsschreibung bis heute seinen Status als Schlüsseltext des Expressionismus behauptet? Die Vorlesung versucht, dieser Frage in einer Mischung aus close reading und kulturhistorischer Kontextualisierung nachzugehen.
Lutz-Henning Pietsch studierte Germanistik, Anglistik und Geschichtswissenschaft an den Universitäten Regensburg und Wesleyan (Conn., USA). 2004-2013 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Seminar der Universität Tübingen. 2008 promovierte er an der Universität Tübingen mit einer Arbeit zur frühesten Rezeption der Kantischen Philosophie (erschienen 2010 bei De Gruyter). (Aufsatzveröffentlichungen zur deutschen Literatur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts (Schwerpunkte: Herder, Schiller, Form der literarischen Charakteristik)). Seit Oktober 2013 ist er Programmdirektor CCM an der Zeppelin Universität.
weitere Termine der Ringvorlesung:
24.03.2015: Prof Dr Maren Lehmann: „Schöpferische Zerstörung“
31.03.2015: Prof Dr Gottfried Boehm: „Fragilität der Originale“
14.04.2015: Dr Thorsten Philipp: „Nur Spiel, kein Ziel: Postmoderne Ästhetik der Oberfläche in Umberto Ecos ,Il nome della rosa‘“
28.04.2015: Prof Dr Schmidt-Wulffen: „,Alle Künstler sind Menschen‘. Kippenberger entwirft Kippenberger“
05.05.2015: Prof Dr Karen van den Berg: abschließende Sitzung
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