Prof Dr Dieter Thomä | Menschen oder wilde Tiere? Die Armen in Theorie und Literatur des 19. Jahrhunderts
Über die Ringvorlesung:
Naturwissenschaftler bezeichnen das gegenwärtige Erdzeitalter als Anthropozän. Sie verweisen so darauf, dass der Mensch selbst längst zum wichtigsten Einflussfaktor auf die Geologie des Planeten und das gesamte terrestrische Leben geworden ist. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Hybridisierung von Mensch und Technik, Mensch und Maschine und der wachsenden Bedeutung, die unterschiedlichen Formen künstlicher Intelligenz zukommt, wird zugleich auch immer unbestimmter, was mit der Rede von „dem Menschen“ gemeint sein könnte. Wird der Mensch zum Menschen durch spezifische Verhaltensformen und Kompetenzen oder durch die genetische Programmierung des Homo sapiens sapiens? Welche Rolle spielen in diesem Kontext Subjektivität und Individualität? Wie verhält sich die Rede vom Anthropozän zu jener von einem post-humanen Zeitalter?
In Film, Literatur, Musik und der Bildenden Kunst wird die conditio humana oft von ihrer vermeintlichen Rückseite her beleuchtet, ausgehend von dem etwa, was als unmenschlich gilt, als grausam, gewalttätig und schrecklich, als Gegenentwurf also zur humanistischen Vorstellung vom vernunftbegabten Wesen Mensch. So stellt auch der Philosoph Slavoj Žižek in seinem Band „Die politische Suspension des Ethischen“ die Frage nach der conditio humana ausgehend vom Unmenschlichen bzw. ausgehend von dem, was der Mensch nicht ist. Eines seiner Beispiele ist dabei Franz Kafkas Geschichte von Odradek – jener kleinen geheimnisvollen Gestalt, die spricht, lacht, atmet, und im Haus in unregelmäßigen Abständen auftaucht und wieder verschwindet. Sie gibt den Hausbewohnern Rätsel auf, weil unklar ist, ob sie als humanes Wesen zu behandeln ist. Ist sie im gleichen Sinne mit Leben erfüllt? Muss man sie fürchten?
Entlang von Filmen und Romanen, Musikstücken und Kunstwerken orientiert sich die Ringvorlesung „Ökologien des Menschlichen“ an zwei Themenschwerpunkten: Dem Unmenschlichen und der Thematik hybrider Körper und ihrer Identität.
Die Vortragsreihe versteht sich als Auftaktveranstaltung der Ausstellung „Möglichkeit Mensch. Körper | Sphären | Apparaturen“, die am Donnerstag, 28. April 2016 im Zeppelin Museum eröffnet wird. Sie wird gefördert von der Kulturstiftung des Bundes.
Über diesen Vortrag:
Einer der großen Beinamen des Menschen besagt, dass er ein animal politicum sei. Darin steckt die Idee, dass wir uns in zwei verschiedenen Räumen bewegen: Einerseits sind wir Lebewesen mit körperlichen Bedürfnissen, andererseits bewegen wir uns in einem Raum, in dem wir als Handelnde auftreten und Freiheit beanspruchen. Diese Doppelung wird seit langem – nicht erst seit Foucaults Analyse der „Biopolitik“ – der Kritik unterzogen. Mit dieser Doppelung ist aber auch Politik gemacht worden – und darum geht es in diesem Vortrag. Statt nämlich den Menschen als „politisches Tier“ aufzufassen, kann man auch eine Politik betreiben, in der manche Menschen nur als Tiere auftreten und behandelt werden. Die Hochphase dieser Politik war das 19. Jahrhundert, als sich diejenigen, die die Fäden in Politik und Wirtschaft in der Hand hielten, einer Klasse gegenübersahen, die aus ihrer Sicht nur aus Tieren und wilden Bestien bestand. Die politische Kampagne gegen die Arbeiter spiegelt sich im 19. Jahrhundert in einer Debatte um die Armen, an der sich zahlreiche Philosophen und Poeten beteiligt haben: Hegel, Marx, Victor Hugo, Baudelaire, Nietzsche und andere. Interessanterweise ist die Rede vom „Tier“ nicht immer nur abschätzig gemeint, man erblickt in den Armen vielmehr auch eine natürliche, barbarische Kraft, mit der sie die verkommene, verzärtelte (verweiblichte?) bürgerliche Welt angreifen. Bis heute ist der Vorwurf, Menschen würden sich wie wilde Tiere benehmen, schnell zur Hand – insbesondere dann, wenn irgendwo wilde Randale ausbrechen. Der Streit um die Armen im 19. Jahrhundert ist ein historisches Lehrstück zu den Fragen, was uns eigentlich als Menschen ausmacht und welche Folgen es hat, wenn wir andere aus politischen Gründen vom Menschsein ausschließen.
Dieter Thomä ist Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen.
weitere Termine und Arbeitstitel:
Dienstag, 12. Apr. 2016 | Prof Dr Christiane Voss | Der Leihkörper des Films
Dienstag, 19. Apr. 2016 | Prof Dr Stephan Schmidt-Wulffen | Das choreografierte Ich - Gordon Matta Clark in seinem Werk
Dienstag, 26. Apr. 2016 | Prof Dr Eva Schürmann | Rene Magritte - Hybride Körper
Dienstag, 03. Mai 2016 | abschließende Veranstaltung
Gefördert durch
Die Anmeldung für diese Veranstaltung ist nicht mehr möglich.